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Kommentar15. Juli 2016

Sind Schlaftrainings unbedenklich?

Kürzlich erschien tatsächlich eine Studie, die genau das nachweisen wollte. Und sie kam in der Presse gut an. Bei CNN hiess es: “It’s OK to let your baby cry himself to sleep, study finds.” Auch in Deutschland standen die beruhigenden Töne im Vordergrund. Die WELT fasst zusammen:

“Die Eltern trauen sich heute nicht mehr, ihr Kind mal weinen zu lassen. Ist das nicht schlimm für die Psyche? Neue Studien geben eine beruhigende Antwort.”

Schauen wir uns die Studie deshalb mitsamt ihrer Beweisführung genauer an.

Die von einem australischen Team rund um den Psychologen Michael Gradisar geplante Studie behauptet tatsächlich nicht weniger als das: Schlaflernprogramme seien weder mit langfristigem Stress bei den Kindern noch mit langfristigen negativen Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Bindung oder seine emotionale Entwicklung verbunden.

Die Studie stand schon vor Beginn in der öffentlichen Debatte in Australien – sie war sogar Gegenstand einer Online-Petition, weil in der Studie die Babys per Zufall auf verschiedene Schlaf-Interventionsprogramme zugeteilt werden sollten, darunter  das “graduate extinction ” nach Richard Ferber (hierzulande als “kontrolliertes Schreienlassen” von der Psychologin Annette Kast-Zahn popularisiert).  Nach einer Stellungnahme durch die universitäre Ethik-Kommission wurde das Protokoll leicht verändert (die teilnehmenden Familien bekamen ein Vetorecht gegenüber dem ihnen per Los zugeteilten Studienarm), aber im Prinzip wurde sie wie geplant durchgeführt.

Für die Vergleichsstudie wurden zunächst 43 Babys bzw. Kleinkinder im Alter von 6 bis 16 Monaten rekruitiert. Die Eltern meldeten sich aufgrund von bei ihren Babys bestehenden “Schlafstörungen” zur Teilnahme. Um Familien für die Studie zu gewinnen wurden z.B. Anzeigen in öffentlichen Verkehrsmitteln geschaltet. Interessanterweise waren fast zwei Drittel der für die Studie angemeldeten Kinder Mädchen (dies überrascht insofern, als Schlafprobleme bei Jungs an sich deutlich häufiger sind als bei Mädchen). Die Teilnehmenden wurden dann in drei verschiedene Gruppen aufgeteilt:

  • die Babys der ersten Gruppe sollten im häuslichen Alltag von ihren Eltern nach  dem Ferberschen “graduate extinction” Programm behandet werden
  • die zweite Gruppe sollte nach dem Programm “bedtime fading” behandelt werden, ein in Australien populäres Programm, bei dem die Schlafgehzeiten für das Baby so lange um jeweils 15 Minuten in die Nacht verschoben werden bis die Babys besser in den Schlaf finden
  • die dritte, als Kontrollgruppe vorgesehene Kohorte bekam lediglich über eine Webseite generelle Informationen zum Babyschlaf.

Die Studie war für eine Laufzeit von 3 Monaten geplant. Die Forscher führten nun an allen Gruppen begleitend Messungen zum Schlafverhalten der Babys durch. Zum einen sollten die Eltern ein Tagebuch führen, in dem sie die Schlaf- und Wachzeiten des Babys protokollierten. Zum zweiten wurde ein technisches Verfahren zur Messung des Aktivitätszustands der Babys eingesetzt , nämlich die Accelerometrie bzw. Actimetrie. Hierfür bekommen die Babys einen dreidimensional messenden Bewegungssensor auf die Haut geklebt, der alle Auslenkungen gegen die Schwerkraft misst, also auch Arm- und Körperbewegungen. Diese Methode wird in der Schlafforschung häufig verwendet um Wach- und Schlafphasen objektiv abzubilden.

Ausserdem verschafften sich die Forscher in bestimmten Abständen per Fragebogen einen Eindruck über den Stress-Pegel und die Stimmung der Mütter; zudem wurde der Kortisol-Spiegel im Speichel der Babys gemessen  (letzteres in der Annahme, daraus den Stress-Pegel der Babys ablesen zu können). Auch wurde 9 Monate nach Ende der Intervention das Bindungsverhalten der Babys im Fremde-Situations-Test gemessen und ihre emotionale Entwicklung in einem Fragebogen untersucht.

Die Autoren berichten nun nach Auswertung ihrer Daten, das: sowohl das “bedtime fading” als auch das “graduated extinction” Programm habe das Schlafverhalten der Babys verbessert. Zudem hätten sich keine langfristigen emotionalen Nachteile oder Bindungsprobleme nachweisen lassen. Auch seien die Mütter im “graduated extinction”-Arm der Studie zumindest nach einem Monat weniger gestresst als die Mütter in den anderen beiden Gruppen.

Kritik an der Studie

Allerdings wurde die Studie auch vielfach kritisiert. So weisen unterschiedliche Arbeitsgruppen auf Probleme der Methodik und insbesondere der Cortisolmessungen hin (z.B. die australische Schlafforscherin Sarah Blunden).

Nun ist die Bewertung und Kritik von Studien nicht unbedingt die reine Lesefreude, weil man dazu auch ein bisschen erklären muss, was denn so unter der Motorhaube einer Studie alles passiert. Anders kommt man aber nicht wirklich zu einer Einschätzung, ob denn nicht hier und da Abkürzungen genommen werden, oder gar Behauptungen aufgestellt werden, die sich auch anders interpretieren lassen.  Ich werde aber versuchen mich kurz zu fassen und mich vor allem auf die grundlegenden Probleme des Studienaufbaus und der Messung des Schlafverhaltens kleiner Kinder beschränken (zur Kortisol-Problematik muss ich auf Frau Blunden verweisen, das ist eine komplexe Methodik, die Details würden das hier dann zu einem Telefonbuch machen). Und wem es  unterwegs trotzdem zu telefonbuchig wird, kann auch direkt unten eine Zusammenfassung lesen (bei “Fazit : Man kann diese Studie auch anders lesen”)…

Erster Kritikpunkt: Unstimmigkeiten in der Messung des Schlafverhaltens

Wie bereits beschrieben, berichten die Autoren in der zusammenfassenden Darstellung der Studie das: das Schlafverhalten der Babys habe sich durch die angewendeten Schlafprogramme verbessert.

Betrachtet man die Ergebnisse, so stimmt die Behauptung nur teilweise:

  • im Vergleich zur Kontrollgruppe sind die Babys der “graduated extinction”-Gruppe  insgesamt 13 bis 15 Minuten rascher eingeschlafen, die “bedtime fading”-Babys 11 bis 12 Minuten rascher
  • … und bei den “graduated extinction” Babys ist die Anzahl des nächtlichen Aufwachens um 2 zurückgegangen (und zwar: nur bei den “graduated extinction” Babys, in den anderen Gruppen konnten keine Änderungen verzeichnet werden).
  • Andere Veränderungen des Schlafverhaltens konnten jedoch nicht auf die Schlaftraining-Programme zurückgeführt werden, sie stellten sich in allen Gruppen ein, und zwar praktisch unabhängig davon, nach welcher Methode die Babys behandelt wurden.  Die gesamte Schlafzeit etwa blieb bei allen Gruppen am Schluss dieselbe. Und auch die gesamte nächtliche Wachzeit nach dem Einschlafen verbesserte sich in allen drei Gruppen, also auch in der Kontrollgruppe (hier wurden minus 44 Minuten für die “graduated extinction”- Babys notiert, minus 25 Minuten für die “bedtime fading”-Babys und minus 32 Minuten für die Kontroll-Babys).

Schauen wir uns aber vor allem genau an, auf welchen Messungen diese Angaben beruhen. Die Autoren stützen diese Ergebnisse auf die Auswertung der von den Eltern geführten Tagebücher, also auf die subjektive Messmethode des kindlichen Schlafverhaltens. Diese ist wegen der vielen Tücken der subjektiven Wahrnehmung unter Fachleuten umstritten: wie können (teilweise ja selbst schlafende) Eltern genau wahrnehmen und dokumentieren, ob ihr Baby – das vielleicht in einem anderen Zimmer schläft – gerade wacht oder schläft…? Bei dieser Methode können zudem leicht systematische Verzerrungen auftreten. So landen zum Beispiel die Babys beim “graduated extinction” Programm regelmäßig im eigenen Schlafzimmer (anders ist dessen Durchführung  ja gar nicht möglich). Aber das bedeutet eben auch, dass möglicherweise die Eltern im “graduated extinction”-Arm das eine oder andere Aufwachen ihres Babys schlichtweg nicht bemerken, diese Einträge fehlen dann aber auch in der Datenanalyse. Dort heisst es dann: die Babys sind zwei Mal weniger aufgewacht – dabei wurde deren Aufwachen vielleicht nur 2 mal häufiger nicht wahrgenommen.

Nun haben die Autoren das Schlafverhalten der Babys auch “technisch” gemessen –  nämlich durch die weiter vorne erklärte Actimetrie. Allerdings zeigte sich bei der Analyse, dass die mit dieser Methode erhobenen Daten insbesondere bei den nächtlichen Wachzeiten nicht im Einklang mit den Befunden der Elterntagebücher standen. Unter Verwendung der Actimeter-Daten liessen sich hier (ebenso wie bei der gesamten Schlafdauer) keine Unterschiede zwischen den Gruppen belegen.

Nun lösen die Autoren diesen Widerspruch, indem sie die Elterntagebücher einfach zur verlässlicheren Methode erklären, in einem ziemlich kryptischen Satz (“no significant sleep changes were found by using objective actigraphy, suggesting sleep diaries and actigraphy measure different phenomena (eg, infants’ absence of crying by parents vs infants’ movements, respectively), further suggesting infants may still experience wakefulness but do not signal to parents.”)

Konkret heisst das: die in der Studie dargelegten Vorteile von Schlaflernprogrammen beruhen ausschliesslich auf subjektiven Elternangaben. Legt man die per Actigraphie gemessenen Daten zugrunde, so können positive Veränderung nicht belegt werden.

Das ist aus methodischer Sicht prekär, und zwar aus zwei Gründen: zum einen werden in der wissenschaftlichen Literatur eher Zweifel an der Tagebuch-Methodik geäußert als an der Actimetrie. Zum zweiten aber stellt sich die Frage,  warum die Actimetrie (eine in der Datenanalyse aufwändige und nicht gerade billige Methode), für diese Studie dann überhaupt eingeplant worden ist. Normalerweise sollte die Verlässlichkeit einer Messmethode nicht erst dann in Zweifel gezogen werden, wenn deren Ergebnisse nicht zur Hypothese der Forscher passen (zumal dann immer noch die Frage im Raum bleibt, warum andere Forscher-Teams gerade der Actigraphie eine höhere Aussagekraft zuordnen).

Vielleicht erklärt das Problem der Messmethoden manche der Auffälligkeiten der Studie: die erhobenen Befunde zum Schlafverhalten wollen nämlich nicht so richtig zueinander passen. So wachen laut der “offiziellen” Ergebnisse der Studie die Babys im “graduated extinction”-Arm nachts deutlich seltener auf als etwa die Kontroll-Babys. Anders als erwartet unterscheidet sich dann aber die gesamten nächtlichen Wachzeiten zwischen den beiden Gruppen nur marginal. Und die “graduated extinction”-Babys, die sich ja angeblich durch selteneres Aufwachen und “deutlich kürzere” nächtliche Wachzeiten auszeichnen, haben dennoch dieselbe Gesamtschlafdauer wie die Kontrollgruppe…

Zweiter Kritikpunkt: problematische Statistik

Die Autoren konnten für ihre Studie bei weitem nicht die Anzahl an Probanden gewinnen, wie sie sich vorgenommen hatten. Mit zunächst insgesamt 43  Probanden  (also 14 bzw. 15 Probanden pro Interventionsarm) ist die Fallzahl für eine dreiarmige Interventionsstudie dann auch tatsächlich extrem klein. In diesem Fall ist sie jedoch so klein, dass sie unter dem zur Sicherung der statistischen Verlässlichkeit geforderten Maß liegt. Die Autoren beschreiben dies selbst  im Methodenteil: “Based on a power of 0.80 and a probability level of .05, at least 21 participants per group would be needed to detect a large effect size.” Also: um sicher zu sein, dass selbst größere Unterschiede zwischen den Gruppen nicht durch Zufall bedingt sind, müssten in jeder Gruppe mindestens 21 Babys “behandelt” werden (um kleinere oder mittlere Effekte verlässlich beurteilen zu können, bräuchte es noch eine weitaus größere Zahl).

In Wirklichkeit stand für die Analyse aber pro Gruppe oft nicht einmal die Hälfte der geforderten Zahl zur Verfügung. Bei der Untersuchung nach drei Monaten etwa konnten nur an 7 Babys für den “graduated extinction”-Arm Daten erhoben werden (für den “bedtime fading”-Arm waren es ebenfalls nur 7, für die Kontrollgruppe waren es 9 Babys bzw. Kleinkinder).

Dritter Kritikpunkt: Mögliche Verzerrung durch viele unerklärte Abbrecher

Zusätzlich zu der von vorn herein schon kleinen Probandenzahl ist die Studie gekennzeichnet durch eine erhebliche Anzahl an Probanden, die das Studienprotokoll zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt beendet haben und entsprechend nicht für Messungen – sie fanden 1 Woche nach Beginn, sowie nach einem und drei Monaten statt – zur Verfügung standen. Je nach Arm und Untersuchungszeitpunkt überwiegt die Zahl der Abbrecher sogar (siehe Grafik 1). Leider werden die Gründe für die hohen Abbruchraten in der Veröffentlichung nicht angegeben, was die Interpretation der Ergebnisse fast unmöglich macht  (die Gründe für einen Abbruch können ja sehr unterschiedlich sein: von “mein Kind schläft jetzt super” bis zu “Hilfe, mein Kind schläft jetzt schlechter als zuvor” oder gar “ich halte das hier nicht mehr aus…”). Da diese Gründe zum Teil von Gruppe zu Gruppe systematisch differieren können, stellt die fehlende Darstellung der Abbruchgründe tatsächlich die ganze Studie in Frage.

Vierter Kritikpunkt: Keine klare Dokumentation der Interventionen

Ungünstig is auch, dass letzten Endes unklar bleibt, inwieweit sich die Probanden-Familien tatsächlich an das ihnen zugeteilte Protokoll gehalten haben. Es handelt sich im Falle dieser Studie ja um eine Auswahl von Familien, von denen anzunehmen ist, dass sie bereits mit mehreren Schlafinterventionen vertraut sind, die sie evtl. auch an ihrem Baby angewendet haben. Gerade bei einer solchen “nicht-naiven” Kontrollgruppe ist der Verzicht auf eine Prozessevaluation extrem bedauerlich – schließlich bleibt unbekannt, ob die gemessenen Effekte wirklich durch die beabsichtigten Behandlungen erzielt worden sind.

Unklar bleibt auch, warum die Autoren bei der Nachsorge-Untersuchung nach 12 Monaten auf eine weitere Erfragung bzw. Dokumentation des Schlafverhaltens verzichtet haben. Denn bezüglich der in der Studie untersuchten Schlaflernprogramme steht ja eine wichtige Frage im Raum, nämlich die, ob deren Wirkung (so sie sich einstellt), dann auch tatsächlich längerfristig anhält: “lernen” die Babys, wie Frau Kast-Zahn postuliert, tatsächlich sich selbst zu trösten und meistern sie durch diesen Entwicklungsschritt dann auch längerfristig den Schlaf? In der Literatur gibt es dazu erhebliche Zweifel:  Eltern, die ihre Kinder nach der Ferber Methode behandeln, haben häufig schon weitere Anläufe hinter sich (nach einer Umfrage des amerikanischen Elternmagazins Today’s Parent haben immerhin 43 Prozent der Eltern, die die Ferber-Methode angewendet haben, noch vier weitere Male oder sogar öfter damit wieder neu begonnen). Seltsamerweise finden sich nun aber in unserer Studie keine Angaben zur Nachhaltigkeit der Programme – und das obwohl mit 12 Monaten eine ausführliche Nachuntersuchung stattfand, in deren Rahmen die Eltern zu allen möglichen Dingen Fragebögen ausfüllen durften. Nur eben wohl nicht zu der Frage, wie es denn jetzt so um den Schlaf ihrer Kleinen bestellt ist…

Fünfter Kritikpunkt: weitere Probleme in der Messmethodik

Kortisolmessungen sind im Babyalter extrem komplex, eine verlässliche Interpretation der nach der in der Studie verwendeten Methodoik ist nicht möglich  (siehe den Kommentar von Sarah Blunden).

Zudem weist die Studienpopulation eine Besonderheit auf, die bei der Interpretation solcher Parameter unbedingt berücksichtigt werden muss. Möglicherweise sind nämlich allein schon aufgrund dieser Besonderheiten nennenswerte Änderungen bei den Kortisolmessungen gar nicht zu erwarten: bei den Babys dieser Studie (und zwar sowohl bei den Interventions- als auch bei den Kontroll-Babys) handelt es sich um eine Auswahl von Kindern mit bereits vorbestehenden chronischen Stresserfahrungen – die Familien haben sich ja allesamt wegen echter Schlafprobleme zur Teilnahme an der Studie entschlossen. Viele, wenn nicht alle der Familien dürften bereits eines oder mehrere “Schlaftrainings” hinter sich haben, sie beginnen diese Vergleichsstudie also keineswegs ohne Vorerfahrungen und -vorbelastungen (leider haben die Autoren auf eine diesbezügliche Dokumentation verzichtet).

Ähnliches gilt für den Fremde-Situations-Test und die Child-Behavior-Checklist: hier handelt es sich um extrem grobe Instrumente, die für das klinische Follow-up nur begrenzte Aussagekraft haben. Für das Bindungsverhalten wurde zudem auf das Erheben eines Ausgangsbefundes komplett verzichtet, so dass gar nicht ausgesagt werden kann, was die Messungen denn mit der  erfahrenen Intervention zu tun haben.

Fazit : Man kann diese Studie auch anders lesen

Ich kann Eltern nur raten sich bei ihren Entscheidungen und ihrer Bewertung von Schlaflernprogrammen nicht auf diese Studie zu verlassen. Sie enthält zu viele Ungereimtheiten und ist methodisch nicht sauber. Und sie bildet auch nicht die wirklichen  Optionen der  Eltern ab. So fehlt insbesondere ein Vergleich mit dem Schlafen im Elternbett oder auch im Anhängebett etc .

(Dieses Manko wird übrigens so begründet: wegen der Gefahr von SIDS im Elternbett könne das nicht empfohlen werden. Allerdings wird im Rahmen der Studie sehr wohl das “graduated extinction” Programm nach Ferber angewendet, eine Methode also, die sich nur durchführen lässt, wenn die Babys in einem eigenen Zimmer schlafen – was wiederum nach einhelliger wissenschaftlicher Meinung das Risiko für SIDS erhöht… Hier scheint man also keine Probleme mit möglichen Gefahren zu haben)

Tatsächlich hätten die Autoren ihre eigene Studie auch ganz anders interpretieren können:

Nehmen wir zum Beispiel das Stress-Argument. Gerade die “graduated extinction”-Programme nach Ferber oder Kast-Zahn werden oft deshalb durchgeführt, weil die Eltern sie als letztes Mittel betrachten, endlich mit dem überwältigenden Stress der Schlaflosigkeit fertig zu werden, und wieder eine bessere Stimmung in der Bude und im Kopf zu haben. Laut dieser Studie können Eltern diese Hoffnung allerdings streichen: ihre Stressbeladung und Stimmung verbessern sich auch dann, wenn sie einfach zuwarten, selbst das Ferber Programm bringt ihnen allenfalls nach einem Monat eine gewisse – aber eben leider vorübergehende Erleichterung (wenn diese überhaupt echt und kein statistisches Artefakt ist). Nach 3 Monaten sind alle Familien in Bezug auf Stress am selben Punkt.

Und auch die Hoffnungen der Eltern, die sich von Schlaftrainings ja meist durchschlagende Änderungen erwarten, müssten aufgrund dieser Daten doch eher gedämpft werden – die Babys schlafen in allen drei Gruppen nachts gleich lang. Und wenn sich ein Effekt durch ein “Training” zeigt, dann beschränkt sich der zum Beispiel darauf, dass das Baby nachts etwa 12 Minuten kürzer wach ist. Und dafür ein Baby alleine schreien lassen?

Und genau das ist mein Punkt: Richten wir uns mit unseren Entscheidungen, wie wir unser Baby ins Bett bringen, wirklich nach solchen Studien? Ich denke doch eher, dass hier unser Menschenbild, und damit unsere Art wie wir Beziehungen sehen, empfinden und gestalten wollen, eine Rolle spielen.

Ob man ein schreiendes Baby tröstet oder nicht, das hängt nicht davon ab, ob jemand “nachgewiesen” hat, dass das schreiende Kind vielleicht später höheren oder niedrigere Cortisolwerte hat. Das machen wir aus anderen Gründen, die uns intuitiv darüber informieren, was wir für gut und richtig im Umgang mit Kindern halten. Wir würden auch nicht wieder anfangen, Kinder körperlich zu bestrafen, nur weil irgendwelche Wissenschaftler dafür eine Unbedenklichkeitserklärung abgeben.

Und so hoffe ich, dass wir in Zukunft wieder mehr über diese inneren Gründe reden statt uns um Studien zu streiten, denen ja doch wieder bestimmte Annahmen und Überzeugungen  zugrunde liegen.

12 Kommentare

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  • Bianca

    Vielen vielen Dank für diese fundierte Bewertung dieser “Studie”.

  • Maik Schwede

    Moin Moin,
    der 6 Kritikpunkt: Die Messung der Cortisolwerte. Sowie ich mich erinnere erfolgte die nur ein oder 2 mal am Tag, wie soll man da etwas feststellen??
    der 7 Kritikpunkt: zu versuchen Babys anhand von Statistiken zu bewerten!
    Nähe, Liebe und Zuwendendung ist das was wir Menschen brauchen.
    Manchmal ist das natürlich, gerade mit einem Schreibaby, nicht leicht wenn die eigenen Nerven am Ende sind. Dies ist häufig an der menschlichen Belastungsgrenze oder darüber hinaus.
    Seid 16 Jahren begleiten wir Familien mit Schreibabys mit unserer Federwiege swing2sleep. Durch mehrere tausend Gespräche mit verzweifelten Eltern, haben wir uns entschlossen einen kompakten Ratgeber zu diesem Thema herauszugeben.
    Diesen kann man kostenlos unter http://www.schreibaby-hilfe.de beziehen.

    LG Maik Schwede

  • Katharina

    Sehr gut und hervorragend recherchiert! DAnke für diese tolle Analyse. Traue keiner Studie, die Di nicht selbst gefälschst hast

  • Sabrina Görlach

    Ich frage mich über was man noch alles Studien machen muss. Ich bringe meine Kinder ins Bett wie ich das will und nicht was eine Studie sagt.

  • kindheitinbewegung

    Meine Mutter hat in den fünfziger Jahren Jahren bei ihrer Kinderplegerinnen-Ausbildung das Buch: “Die Mutter und ihr ertes Kind” von Nazi-Ideologin Johanna Haarer bekommen. Was dort zum Schlafen der Babys empfohlen wird, ist nichts als Ferbern pur. Das Buch wurde ja noch lange Jahre nach dem krieg weiter verlegt. Kein Wunder, daß Schlaftrainings auf so offene Ohren bei vielen stoßen.
    Danke für den aufschlußreichen Artikel. Dagmar

  • Anna

    Herzlichen Dank für das Schauen unter die Oberfläche! Wie wäre es, wenn Sie mit Ihrem Wissen mal diesbezügliche Wikipedia-Artikel korrigieren, damit noch mehr Eltern erreicht und aufgeklärt und somit weniger Kinder gequält werden?
    Und wenn Sie sich zu den so genannten Internet-Experten gesellen, (die in Foren Fragen zum Schlaf “beantworten”), um wirklich wissende Antwort und hilfreichen Rat zu geben?
    Im Internet kursiert der Mainstream der Unbedenklichkeit von Schreienlassen (es wird ja “kontrolliert”) bzw. der Anormalität der (Ein)Schlafbegleitung durch einen Erwachsenen (z.B. Verwöhnangst). Da braucht es solch fundierten Gegenwind wie den Ihren!

  • Franzi

    Ich finde Ihren Blog und Bücher ganz großartig und sehe dadurch immer wieder das bestätigt, was ich nach Gefühl ohnehin so gemacht hätte, aber häufig durch mein Umfeld oder gar von “offizieller” Stelle ganz anders empfohlen wird. Daher würde ich Sie zu dem Thema ganz gern fragen: Wieso ist die Frage nach dem Durchschlafen standardmäßiger Bestandteil der U6? Sogar die DGKJ erklärt ja offiziell, dass ein Kind ab 6 Monaten in der Lage ist, ohne nächtliche Mahlzeiten auszukommen… Es verhungert sicher nicht, aber das so raus zu geben, finde ich unverantwortlich und leider einen super Wegbereiter für Schlaftrainings.

    • Herbert Renz-Polster

      Danke, das sind gute Fragen, auf die es keine guten Antworten gibt. Ab wann ein Baby ohne nächtliche Nahrung auskommt? Dazu gibt es sehr viele Behauptungen, die sich ziemlich stark widersprechen. Irgendwie ist das ja auch verständlich, denn es ist so schwer die Babys selbst zu fragen. Und dann kommen immer unsere eigenen Annahmen und Menschenbilder ins Spiel (gehe darauf ausführlich in “Schlaf gut, Baby” ein). Geht es darum, dass ein Baby nicht verhungert? Dann kann man schon nach der Neugeborenenzeit die nächtliche Nahrung streichen. Geht es darum, dass es körperlich optimal gedeiht? Das wurde noch nie untersucht, denn mit welcher Methode würde man einen echten Vergleich zustande bringen? Geht es darum, dass ein Baby sich wohl fühlt, seine Emotionen reguliert? An der Brust trinken ist nun einmal nicht nur Nahrungsaufnahme. Geht es darum, dass es wieder in den Schlaf findet? Überall werden Sie auf unterschiedliche Antworten stoßen. Die DGKJ darf natürlich auch in diesem Durcheinander mitmachen, warum nicht. Aber Mutter und Baby sind da auch wichtig 😉

  • Daniela Galashan

    Vielen lieben Dank für diesen fundierten Beitrag! Ich hoffe, dass er von vielen gelesen wird!

  • Anna

    Ich bin so desillusioniert, dass ich beim letzten Argument nicht mitgehe. Ich glaube tatsächlich nicht, dass das Verbot körperlicher Züchtigung nicht hier und da überdacht werden würde erst recht wenn eine “Studie” Anlass dazu geben würde.😐

  • E.Giolbas

    Lieber Herr Renz-Polster,

    gehen Sie auf Ihrer Homepage auf die folgende Studie ein?
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36375604/
    Oder kennen Sie Fachartikel, die dies tun?
    Ihre Meinung dazu würde mich interessieren!

    Grüße, E.Giolbas

    • Herbert Renz-Polster

      Danke, ich habe keinen Kommentar dazu gelesen, die Gruppe hat schon 2016 eine kleinere Studie veröffentlich, kommentiert hier: https://evolutionaryparenting.com/helping-baby-sleep/
      Die Feststellung zur Effektivität hängt immer auch am Beobachtungshorizont, viele Extinktionsprogramme sind kurzfristig wirksam, aber nicht nachhaltig. Dass die Intervention keine nachteiligen Folgen hätte, ist eine reine Behauptung, es gibt dazu keinerlei verlässliche outcome-Messungen mit Relevanz für die kindliche Entwicklung. hG
      HRP

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